Julia Weber

"Formation und Deformation. Körper im lyrischen Sprechen Paul Celans"

Kurzbiographie

  • 2010-2014 Bachelorstudium der Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft, Begleitfach Romanistik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Titel der Abschlussarbeit „Wege des Nicht-Handelns. Zu den Schreibformen des Zögerns in Robert Musils ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘“ (Betreuende: Herr Prof. Dr. Norbert Gabriel/ Frau PD Dr. Andrea Schütte)
  • seit SoSe 2014 Hilfskraft am Lehrstuhl von Herrn Prof. Dr. Jürgen Fohrmann
  • 2014-2018 Masterstudium Germanistik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Titel der Abschlussarbeit „Fragmentierter Körper, dinghafter Körper. Zu den Funktionsweisen des Figurenkörpers in den ‚Kinder- und Hausmärchen‘ der Brüder Grimm“ (Betreuende: Frau PD Dr. Hedwig Pompe/ Frau PD Dr. Andrea Schütte)
  • seit WiSe 2017/18 Projektassistenz der Germanistischen Institutspartnerschaft Bonn-Seoul-Tokyo (GIP)
  • seit 2018 Promotion zum Thema „Formation und Deformation. Körper im lyrischen Sprechen Paul Celans“ (Arbeitstitel) (Betreuerin: Frau PD Dr. Andrea Schütte)
  • Lyrik und Lyriktheorie
  • Körper- und Raumtheorie
  • Märchen
  • Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts

Die Darstellung von Körpern – insbesondere von personalen Körpern – in Texten stellt grundsätzlich einen Problemkomplex dar. Die Sukzessivität, die Texten zu eigen ist, zwingt sie zu einer Zerlegung der (vermeintlichen) körperlichen Gesamtheit in Teile. Fragen der Formgebung drängen sich in Bezug auf Körper in Texten somit zwangsläufig auf.
In der Lyrik Paul Celans erscheinen Körper allerdings nicht nur aus diesem Grund in Fragmentierung. Vielmehr bietet Letztere Raum für die Ausstellung von De- und Neukontextualisierungen von Körperteilen, ihren De- und Refunktionalisierungen sowie die Hybridisierung von Materialitäten, sodass in diesem Zusammenhang der Terminus Heterotopie (in Anlehnung an Foucault) anwendbar wird für die Körperphänomene bei Celan.
Um die Fragen von Formation und Deformation von personalen Körpern in diesem Kontext diskutieren zu können, müssen zunächst die Versuche in den Blick genommen werden, den Begriff und die Konzeptionierungen von Körper zu definieren. Diese setzen sich unweigerlich auseinander mit Komplexen der Offenheit, Geschlossenheit und Konturierung (bzw. deren Unmöglichkeit), der Beschädigung, Belebtheit und Unbelebtheit, sowie der Materialität. Hier soll der Körper schließlich angenommen werden als „entirely problematic notion, a historical category, steeped in imagination and one which must be deciphered within a particular culture by defining the functions it assumes and the forms it takes on within that culture“ (Vernant). (Dazu auch Foucaults Diskussion des utopischen Körpers sowie Kamper, Benthien u.a.)
Aus dem Close-Reading der Celan’schen Texte geht hervor, dass körperbezogene Wort- und Satzkonstruktionen vorherrschend in einer als topographisch zu bezeichnenden Verwendungsweise gebraucht werden. Der Körper, bzw. seine Teile, werden zu Orten, Plätzen, Räumen, wo Vorgänge und Phänomene lokalisiert sind, wo sich etwas aufhält, geschieht, befindet, auf den etwas zuhält, sich zubewegt; der Körper und seine Teile werden zur Gestaltungsgrundlage, zum Boden, zum Material für Textgeschehen.
Konkret kommt es zur Einbettung von Körperteilen in bestehende Topographien, zur Verortung und Speicherung von Geschehen und Dingen am oder im Körper, zu Ablösung, Verselbständigung und Gebrauch von Körperteilen. Damit werden nicht nur Fragestellungen etwa der ANT/ der Handlungstheorie gestreift, wenn vereinzelte Körperelemente nicht bloß als Instrumente, sondern auch als Akteure auftreten, bzw. sich die Abgrenzungen und Übergänge hinsichtlich Agency ergeben; sondern es müssen nach der theoretischen Betrachtung des Körpers auch Aspekte der Raumtheorie in den Blick genommen werden, wenn es um die Konstruktion/Formierung von Topographien mittels/ am/ über den Körper geht – gegebenenfalls kann an diesen Stellen auch auf Terminologien des Körper-/Kulturkontakts aus den Postcolonial Studies zurückgegriffen werden (Third Space, Inbetweenness, Aneignung, Mimikry), um die (hetero-)topischen Vorgänge beschreiben zu können, bei denen letztendlich körpereigene und -fremde Elemente aufeinandertreffen. (Zu dem Themenkomplex auch: Rochelle Tobias.)
Weiter soll mit dem Mund ein spezifisches Körperelement in den Fokus gerückt werden, einerseits als Exemplifizierung der zuvor identifizierten Komplexe des Körpergeschehens, andererseits als Element, dem entsprechend seiner Gestaltungsqualität eine spezielle Räumlichkeit, bzw. ein besonderer Produktionsaspekt zukommt. Eine Schnittstelle/ Übergangszone von Innen und Außen bilden der Mund und sein Kontext, einen Raum für diverse Aufnahme- wie Herausgabevorgänge, des Konsums wie des Hervorbringens – von Stimme, Lauten, Sprache, Rede oder auch deren Negation. Was leisten der Begriff des Mundes und die Begriffe seines Umfelds in den Gedichten Celans, welche semantisch-semiotischen Bereiche eröffnen sie, welche Bedeutungen und Bedeutungsspektren setzen sie frei innerhalb eines Gedichts, eines Gedichtbandes, einer Reihe von Gedichtbänden?
Viele der Fragen, die sich in Bezug auf den Körper auftun, drängen sich bei näherer Betrachtung ebenfalls in Bezug auf lyrische Texte auf – die der Offenheit, Geschlossenheit, Fluidität, Hybridität einer vermeintlichen Entität. (An dieser Stelle wäre eine Diskussion der Tragfähigkeit einer solchen Analogie vonnöten.)
Fraglich ist, inwiefern die Gedichte Celans als Einzeltexte – als geschlossene, fest konturierte Körper, hermetisch abgedichtete Räume – gefasst werden können oder ob sich nicht die Vernetzungen der Gedichte über ihre Grenzen hinaus bis auf die Ebene von Gedichtzyklen, -bänden und darüber hinaus nachzeichnen lassen.
Ebenfalls fraglich wäre, welche Auswirkungen unterschiedliche Erscheinungsformen von lyrischen Texten haben: Die massiven Veränderungen der Form der Gedichte Celans von verhältnismäßig traditionell in den frühen Gedichtbänden hin zu bruchstückhaft kurz anmutend in den späten bieten reichlich Material für eine Diskussion dieser Frage. Wie ist diese Entwicklung der Textformen einzuschätzen – werden hier eigenständige neue Formen entwickelt oder müssen sie als Fragmente, Ruinen destruierter Ursprungsformen, also als Abweichungen von einem vermeintlichen Normalzustand, betrachtet werden? Mit der Auseinandersetzung mit der jeweiligen Dichtungstraditionen im Hintergrund soll die Analogie Körper(raum)-Text an dieser Stelle zu einer Annäherung an diesen Problemkomplex beitragen.
Wenn man davon ausgeht, dass die Gedichte nicht hermetisch für sich stehen, lassen sich in der Folge regelrechte zyklen- und bändeübergreifende Reihen an „Themen“ feststellen, bzw. Netzwerke an Komplexen beobachten, die Gedichte teilen und verbinden – auch hier würde exemplarisch am Komplex „Mund“ gearbeitet. Wie geht man analyse-/ interpretationstechnisch damit um, ohne in simplifizierende Stellenphilologiemethodiken (siehe Szondis Kritik) abzugleiten und zugleich dem Einzeltext gerecht zu werden? Wie formieren, bzw. de-/ reformieren sich Bedeutungskomplexe? Hier könnte man auf die operativen Verfahren der De-/ Neukontextualisierungen, der De-/ Neufunktionalisierungen und Funktionsverschiebungen, und der Hybridisierungen/Überlagerungen zurückkommen, die sich für den Umgang mit Körpern in Celans lyrischen Texten feststellen ließen. Welche Mittel des lyrischen Sprechens werden zu diesen Zwecken gebraucht? Was für ein neuer Sprechakt formiert sich hier? Oder wird der Sprechakt vielmehr deformiert?
Unter Einbeziehung von bedeutungstheoretischen Perspektiven würde die Bedeutungs-/ Sinnformierung und -deformierung bei Celan diskutiert. Denkbar wäre dabei eine Betrachtung allgemein wechselseitiger Aufladevorgänge (Echostrukturen, „spezifische Etymologien“, dazu etwa Hollander/ Nägele/ Culler) in Korrespondenz etwa mit Gedanken des (Post-) Strukturalismus, der Dekonstruktion, der Systemtheorie oder der Gestalttheorie.

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