‚Medieval Cancel Culture? Spielregeln des Aus- und Eingrenzens im Mittelalter‘ – Studierendentagung
Wer kennt es nicht? Jemand postet ein einfaches Tanz- oder Prankvideo, das völlig unerwartet ‚viral‘ geht, tausendfach geteilt und begeistert nachgeahmt wird. Doch ebenso kann eine einzelne Aussage oder Handlung schnell zu einem medialen Aufreger ausarten – und statt von Fans gefeiert zu werden, wird man von einem Twittermob gecancelt. Dieses unter dem Begriff ‚Cancel Culture‘ gefasste Phänomen richtet sich gegen eine (bekannte) Person, eine Marke oder ein Unternehmen und beschreibt deren soziale Ausgrenzung als gesellschaftliche Reaktion auf eine Aussage oder Handlung, die ihnen vorgeworfen und als Verstoß gegen die sozialen bzw. moral-ethischen Konventionen der Gesellschaft bewertet wird. Auf diese Weise soll das Fehlverhalten der Gecancelten aufgezeigt und ihnen ihre Plattform in der Öffentlichkeit entzogen werden.
Auch wenn wir mittelalterliche Helden nicht auf TikTok finden, geschweige denn die Tweets der mittelalterlichen Bevölkerung des Heiligen Römischen Reiches einsehen können, so sind dem Mittelalter gesellschaftliche Ausschlusspraktiken als soziale Sanktion nicht fremd, im Gegenteil: Sie werden unter anderem an prominenten Vertreter:innen in der mittelalterlichen Literatur (z. B. Erecs verligen oder Walthers von der Vogelweide politische Sangspruchdichtung) verhandelt. Welche Dynamik der Cancel Culture entwickelt sich also im Mittelalter?
Dieser und weiteren Fragen haben wir uns an zwei spannenden Tagen im Mai 2025 mit unserer Studierendentagung ‚Medieval Cancel Culture? Spielregeln des Aus- und Eingrenzens im Mittelalter‘ gewidmet. Am 16. und 17. Mai sind über fünfzig Studierende verschiedenster Studiengänge aus Bonn, Köln, Düsseldorf und weit darüber hinaus zu zehn studentischen Vorträgen sowie einem Abendvortrag zusammengekommen. Gemeinsam konnten wir einen vielschichtigen Umgang mit dem Konzept ‚Cancel Culture‘ bezogen auf das Mittelalter entwickeln und interdisziplinäre Perspektiven erarbeiten.
Insgesamt konnten die Vorträge zeigen, dass die Auseinandersetzung mit einem solchen, intuitiv nicht dem Mittelalter zugeordneten Thema facettenreiche Perspektiven auf die mediävistischen Geisteswissenschaften ermöglicht. Das große zeitliche Vortragsspektrum mit Werken aus dem 10. Jhd. bis hin zum 16. Jhd., genau wie die Vielfalt der behandelten Sprachen und Sprachstufen vom Mittelalteinischen über das Altnordische bis hin zum Mittelhochdeutschen und Schottischen Dialekt unterstreicht diese Vielfalt noch einmal zusätzlich. Spezifische gattungstypologische Aspekte der ‚Medieval Cancel Culture‘ konnten hierdurch für das frühmittelalterliche Drama, die hochmittelalterliche Epik, den Artus- und Antikenroman sowie für spätmittelalterliche Schwankliteratur und Streitgedichte herausgearbeitet werden. All dies zeigt – trotz seiner Alterität – eine Anschlussfähigkeit des Mittelalters an die moderne Debatte rund um das Thema ‚Cancel Culture‘, welches ein neues Instrument darstellt, mit dem unter verschiedensten Gesichtspunkten wie z. B. Narratologie, Genderrollen oder Raum auf bereits bekannte Texte und Passagen geblickt werden kann. Gleichzeitig ist die Aktualität des Themas besonders geeignet, Studierende und damit den akademischen Nachwuchs der mediävistischen Disziplinen anzusprechen.
Die Studierendentagung wurde dankenswerterweise von der Abteilung der germanistischen Mediävistik, dem Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft, der Philosophischen Fakultät sowie dem Bonner Mittelalterzentrum und der Universitätsgesellschaft Bonn gefördert.